Die gestörte Gesangseinlage durch ein Interview in ARD lässt mir keine Ruhe mehr. Denn – ich erinnere – bereits 2015 hat es einen ähnlichen Fall in Mainz gegeben. Wir lassen uns das Singen nicht verbieten
Ein Kollege fragte nun nach, wie denn die Sache in Mainz ausgegangen sei, hatte die Anzeige Erfolg? Hatte sie nämlich nicht, berichtete 2016 die LTO und erklärte dazu:
Dürfen Künstler mit einer Sinfonie gegen die AfD ansingen? Ja, wenn sie deren Demo nicht vereiteln, sondern bloß stören wollen, meint die StA Mainz. Die Musiker hätten ihre Meinung sagen und ein Zeichen setzen wollen.
Der Protest des Mainzer Staatstheaters mit einer lautstark vorgetragenen “Ode an die Freude” gegen eine AfD-Kundgebung ist nach Ansicht der zuständigen Staatsanwaltschaft (StA) Mainz nicht strafbar. (Beethoven-Protest gegen AfD-Demo nicht strafbar)
Noch weniger dürfte die Sache bei der Übertragung der ARD eine Rolle spielen, denn bei dem sogenannten Sommerinterview handelt es ich ja nicht einmal um eine Versammlung, sondern … ja, um was handelt es sich dabei eigentlich. Ein privates Gespräch, das im öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Fernsehen gesendet wurde. Also, so what?
Asyl bei Horkheimer
„Früher oder später wird das Asylrecht für politische Flüchtlinge in der Praxis abgeschafft. Es paßt nicht in die Gegenwart. (…) Das Asylrecht wird vor den gemeinsamen Interessen der internationalen Kapitalistenklasse verschwinden, soweit es sich nicht um Emigranten aus Rußland oder völkische Terroristen handelt. Hat ein Mensch aber die Hand gegen das Ungeheuer des Trustkapitals erhoben, so wird er in Zukunft keine Ruhe mehr finden vor den Krallen der Macht.“
Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen aus Deutschland, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 2, Frankfurt 1987, 403 f.
Pizza con Würstl
In einer Mail des CSU-MdB Pilsinger schreibt dieser in der Frage zu Wahl der neuen Verfassungsrichter:innen, er könne die Haltung der Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf nicht teilen, sie sei daher nicht wählbar.
Anerkenne: Mein Wissen ist auch nur mein Wissensstand
„Ich kann die Sorgen und kritischen Stimmen vieler Bürgerinnen und Bürger, aber auch aus unseren Reihen, zur Kandidatur von Frau Prof. Dr. Brosius-Gersdorf gut nachvollziehen. Insbesondere ihre öffentlich bekannten Positionen zur Frage des Lebensschutzes und zum § 218 StGB sehe ich sehr kritisch. Als Arzt, Christ und Bundestagsabgeordneter der CSU ist für mich klar: Die Würde des Menschen beginnt mit der Zeugung, nicht erst mit der Geburt. Der Schutz ungeborenen Lebens ist für mich keine Randfrage, sondern Kernbestandteil unserer ethischen und verfassungsrechtlichen Ordnung.“ (Quelle)
… und was unsere ethische und verfassungsrechtliche Ordnung ist, das bestimme nun mal ganz allein ich. Und zur Not kann man sich kategorisch und imperativ auch auf mein Gewissen verlassen. Denn mit dem Wissen ist da ja so eine Sache. Da bin ich gerade auf dem Stand von 1954 vielleicht. Oder 1955? Oder 1931? Oder gar 2033 bis 2045 (sic!)!
„Ich respektiere, dass in unserer Fraktion unterschiedliche Bewertungen getroffen wurden. Aber gerade bei so sensiblen ethischen Fragen ist es wichtig, dass jeder Abgeordnete nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet. Dies werde ich tun – mit voller Überzeugung.“ (Quelle)
Anders als beim Asylrecht zum Beispiel. Oder beim Einsatz von amerikanischer Spionagesoftware oder bei Abschiebungen. Überhaupt ist zu überlegen, ob das System der Parteiendemokratie nicht durch die Wahl von Weltbildern abgelöst werden sollte. Wenn es am Ende doch nur aufs Gewissen ankommt … siehe:
Mein Weltbild – dein Weltbild – mein Weltbild ist für alle gültig
Stephan Pilsinger vertritt damit eine andere Überzeugung als das Bundesverfassungsgericht selbst. Dass er Probleme mit dem Verfassungsgericht hat, zeigt ebenfalls seine Kritik an der höchstrichterlichen Entscheidung zur Frage des assestierten Suizids. In der Wikipedia wird Pilsinger zitiert:
„Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das beschlossen hat, dass jeder Mensch den Zugang zu einem assistierten Suizid haben muss, ist es derzeit möglich, dass auch Menschen, die jung und gesund sind, einen assistierten Suizid in Anspruch nehmen. Das entspricht, ehrlich gesagt, nicht meinem Weltbild.“ (Quelle)
Das ist auch ganz egal, was Stephan Pilsinger für ein Weltbild hat, und sei es, dass für ihn die Erde eine Scheibe sei, dann geht es eben ihn alleine an. Man darf Grundgesetzfragen nicht am politisch-ethischen Empfinden orientieren, sondern an dem Gesetz. Und dieses, so sieht es im historischen Kontext aus, wandelt sich mit der Gesellschaft, in der es Anwendung findet. Das kann progessive und Züge liberaler Art enthalten oder es kann auch regressiv Dinge zurückdrehen. Ganz interessant sind die Seiten 194 ff. in Uwe Wesels „Juristischer Weltkunde“ von 1984. Aber dafür spielt das Gewissen eines CSU-Abgeordneten eher eine übersehbare Rolle. Es ist daraus bitte keine Gesetzgebung abzuleiten.
„Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist ein hohes Gut. Deshalb
muss bei der Auswahl seiner Mitglieder nicht nur juristische Exzellenz, sondern auch persönliche Integrität und eine verfassungsrechtliche Haltung gelten, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung – einschließlich des Schutzes des Lebens – glaubwürdig mitträgt.“ (Quelle)
Pilsingers Bundesamt für persönliche Integrität teilt mit …
Genau deshalb wurde die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf in einer Vorauswahl des Richterausschusses des Bundestags gewählt. Jemand wie Pilsinger wäre nicht nur juristisch nicht qualifiziert, sondern durch seine Ablehnung gegenüber bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch inhaltlich, politisch nicht geeignet. Aber vielleicht hat er auch uns allen unbekannte Informationen aus dem „Bundesamt für Persönliche Integrität“, die er uns vorenthält. Ist Frauke Brosius-Gersdorf etwa Pizza con Würstl? Singt sie heimlich unter der Dusche? Trinkt sie nach 18 Uhr noch Espresso? Fragen über Fragen.
Beckett Zeuge Gott
Herr Wachtmeister, rief er, Gott ist mein Zeuge, er hatte seine Hand darauf.
Samuel Beckett: Watt, S. 8
Gott ist ein Zeuge, der nicht unter Eid genommen werden kann.